Leserbrief

Reaktion auf den Kommentar vom 26.10.2025 in der FAS

(Münster, 28. Oktober 2025) Sehr geehrte Redaktion,

als Präsidentin der Apothekerkammer Westfalen-Lippe widerspreche ich der These „Keiner braucht die Apotheken“ entschieden. Sie unterschätzt, was wohnortnahe Apotheken jeden Tag für die Sicherheit der Patientinnen und Patienten, die Therapietreue und die Versorgungssicherheit leisten – und zwar weit über das reine „Verkaufen von Tabletten“ hinaus. Dass der Autor dabei mit einem Federstrich rund 160.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze über die Klippe springen lässt (ach ja, sind ja „nur“ Frauen-Jobs), ist schon schlimm genug. Dass er mit der faktischen Aufkündigung der letzten Sicherheitsbarriere vor der Arzneimitteleinnahme durch den Patienten einfach Menschenleben riskiert, ist markerschütternd: als Bürgerin, als Apothekerin und Abonnentin Ihrer Zeitung. Aber der Reihe nach:

Erstens: Selbstmedikation ist kein Selbstläufer. „Bagatellpillen“ gibt es medizinisch nicht. Ibuprofen ist für viele Menschen sinnvoll – für andere (z. B. bei Magen-Darm- oder Nieren-Erkrankungen, in Kombination mit Blutverdünnern oder bestimmten Antidepressiva) gefährlich. Paracetamol ist in der Überdosierung lebertoxisch. Das bedeutet im konkreten Fall nicht weniger als die Wahl: Transplantation oder Tod. In der Apotheke prüfen wir Kontraindikationen, Interaktionen und Doppelanwendungen im Kontext der individuellen Situation: Alter, Begleiterkrankungen, Dauermedikation, Schwangerschaft/Stillzeit. Gerade weil „die meisten Kunden schon wissen, was sie wollen“, verhindern wir täglich Fehl- und Überanwendungen – niedrigschwellig, ohne Termin, ohne Hürde.

Zweitens: Beratung ist keine Verkaufsmasche, sondern gesetzlicher Auftrag und gelebte Verantwortung. Unsere Teams dokumentieren Hinweise, erklären Dosierungen, Einnahmedauer und Alternativen (inkl. „einfach mal ins Bett“), verweisen bei Warnzeichen an Ärztinnen und Ärzte und unterstützen bei der richtigen Anwendung z. B. von Inhalatoren, Nasensprays, Salben, Kapseln. Dass einzelne (Kombi-) Produkte in Tests schlecht abschneiden, darf nicht zur Pauschalkritik an einer ganzen Berufsgruppe führen. Für die Kammern ist unabhängige, evidenzbasierte Beratung Maßstab – und wir sanktionieren Fehlverhalten.

Drittens: Rezeptpflichtige Arzneimittel „nur nach ärztlicher Anweisung abgeben“ klingt simpel, ist es aber in der Praxis nicht. Wir erkennen Verordnungsfehler, Interaktionen bei Polymedikation, Dosierungs- oder Darreichungsfehler, prüfen Unverträglichkeiten, setzen Verordnungen unter Rabattverträgen rechtssicher um, sichern Kühlkette und Fälschungsschutz und lösen Lieferengpässe – oft in Minuten, nicht in Tagen. Wir sind die letzte unabhängige Sicherheitsinstanz im Arzneimittelprozess. Diese „Doppelte Sicherheit“ wird in keinem Hochrisiko-Prozess zur Disposition gestellt. Nur bei Arzneimitteln, wo ein Buchstabendreher oder eine Verwechslung von Gramm zu Milligramm den Unterschied von Leben oder Tod bedeuten kann. Wer einen Kommentar schreibt, kann diesen am nächsten Tag verändern, zurückrudern oder ein öffentliches Gewitter an sich vorbeiziehen lassen. In der Arzneimittelversorgung sind Fehler gefährlich für Leib und Leben.

Viertens: Versorgung ist mehr als Logistik. Nacht- und Notdienst, Rezepturen (u. a. für Kinder, Dermatologie, Schmerztherapie und immer dann, wenn sich die Herstellung für die Industrie nicht lohnt), Akut-Belieferung bei Klinik-Entlassungen, Heimbelieferung, Palliativversorgung, Betäubungsmittel- und besondere Lagerpflichten, Impf- und Testangebote, Adhärenz- und Medikationsmanagement – das sind Gemeinwohlaufgaben, die nicht per Fernlogistik substituierbar sind. Zentralisierung ersetzt nicht die wohnortnahe, sofort verfügbare Individualversorgung. Menschen, die mit diesen Bereichen Arbeiten oder Angehörige haben, kämen nicht im Traum auf die Idee, sich über die Institution Apotheke dermaßen vernichtend zu äußern. Die sind nämlich auf dezentrale Strukturen angewiesen, um Patienten zu versorgen.

Fünftens: „Liefern wir eben direkt an die Haustür“ löst kein Strukturproblem, sondern schafft neue Risiken. Arzneimittel sind keine Konsumgüter. Es geht um Temperaturführung, Identitätssicherung, Beratung im Moment der Abgabe, Rückfragen bei Warnsignalen und die unmittelbare Lösung von Engpässen. Apotheken tun dies täglich per Botendienst – am selben Tag, mit pharmazeutischer Begleitung. Eine Verlagerung ins Ausland mag rechtliche Grauzonen ausnutzen, sie entzieht aber der deutschen Aufsicht, der Qualitätssicherung, der Arzneimittelsicherheit die Grundlage. Das schwächt am Ende gerade die ländlichen Räume, die der Kommentar zu schützen vorgibt.

Sechstens: Preisargumente greifen zu kurz. Wer nur den Kassenbon sieht, blendet Folgekosten aus: Notfälle durch Schmerzmittel-Missbrauch, Klinikaufenthalte aufgrund von Interaktionen, Antibiotikafehlgebrauch, Therapieabbrüche. Prävention durch Beratung spart dem System Geld – und Leid bei Patientinnen und Angehörigen. Dass Apotheken wirtschaftlich arbeiten müssen, steht dazu nicht im Widerspruch. Transparente Preise, evidenzbasierte Empfehlungen und die Nicht-Abgabe, wenn es medizinisch geboten ist, gehören zusammen.

Wir Apothekerinnen und Apotheker sind keine Gatekeeper aus Besitzstandswahrung, sondern Brückenbauerinnen zwischen Diagnose und Alltag. Wir stehen für mehr Digitalisierung (eRezept, eMedikationsplan), für noch bessere Vernetzung mit Praxen und Kliniken, für strukturierte pharmazeutische Dienstleistungen bei Polymedikation – und ja: für pragmatische Zugangswege in der Selbstmedikation, aber mit Sicherheitsnetz. Wer seriös über Reformen sprechen will, sollte nicht den Eindruck erwecken, Arzneimittel ließen sich wie Bonbons vertreiben.

Für all diese Aufgaben und die Herausforderungen, die in den nächsten Jahren auf das Gesundheitssystem zukommen, braucht es mehr Apotheken, nicht weniger: Es braucht genau diese niedrigschwellig erreichbaren Heilberufler*innen mit Lotsenfunktion im Gesundheitswesen und eine verlässliche Finanzierung der Gemeinwohlaufgaben. Dann wird aus Polemik Versorgung. Für die Menschen in Westfalen-Lippe und in ganz Deutschland.

Gabriele Regina Overwiening

Präsidentin der Apothekerkammer Westfalen-Lippe


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Leserbrief von Kammerpräsidentin Gabriele Regina Overwiening als Reaktion auf den Kommentar zum Apothekenwesen in der FAS vom 26.10.2025

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